Israel Reise

Einführung ins Alte Testament II
Geschichts- und Weisheitsbücher - Ein Volk für die Völker

Der hermeneutische Zugang orientiert sich am Konzept des pragmatizistischen Perspektivismus unter besonderer Berücksichtigung heilsgeschichtlicher und missiologischer Dimensionen.


Leseprobe

 

Zusammenfassend stellt sich das Levirat im Buch Ruth wie folgt dar:

Naomi wollte aufgrund ihrer Notlage ererbtes Land veräußern. Damit das Land in Familienbesitz bleibt, musste ein goel einspringen. Durch seinen Erwerb kommt er selbst nicht in den Besitz des Landes, sondern verwaltet es treuhänderisch für den kommenden Erben, für den er gewissermaßen ein Opfer um der Familie willen bringt. Obwohl Naomi das erste Recht an den Löser besitzt, tritt sie, da sie keine Kinder mehr bekommt, dieses an Ruth ab. Bemerkenswert: eine Israelin setzt eine aus dem Heidentum kommende Frau rechtsgültig in ihre Erbfolge ein, - was überdies an Röm 11,17 erinnert, wo die Heidenchristen im Bildnis vom Ölbaum an die Stelle der ausgebrochenen Zweige Israels als "Trieb vom wilden Ölbaum" eingepfropft werden. Der nächste als Löser in Frage kommende Löser war nur am Land interessiert, jedoch nicht an Ruth. Obwohl er die finanziellen Mittel gehabt hätte, rechnete sich die Sache aufgrund »menschlicher Zusatzbelastungen« für ihn nicht. Gleich wie Orpa am Anfang des Buches ist diesem Löser nichts vorzuwerfen, er handelt vernünftig, überschlägt die Kosten und kommt so zu einem wohl überlegten Ergebnis. Ruth und Boas beschreiten über das Maß des Kalkulierbaren hinausgehende Wege und werden vom Zentralmotiv der chäsäd, der Treue Gottes geleitet.

 

Zwei »Lösercharaktere« als Gleichnis für Gesetz und Evangelium

Die beiden Löser lassen sich überdies mit Gesetz und Evangelium vergleichen. Über das Gesetz lässt sich keine Erlösung erzielen: der Preis ist zu hoch, keiner kann und will ihn bezahlen. Denn "Israel aber, das dem Gesetz nachjagte, das Gerechtigkeit verheisst, hat das Gesetz nicht erreicht" (Röm 9,31) und "Israel hat, was es suchte, nicht erlangt" (Röm 11,7). Doch "Ziel und Ende des Gesetzes nämlich ist Christus, zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt" (Röm 10,4). Im Evangelium wird der Preis bezahlt, aus Gottes kalkulationsfreier chäsäd, aus der liebenden Hingabe des stellvertretenden Lösers Jesus Christus, der das Opfer um der Familie willen bringt und seine »Braut« Israel aus der Verhaftung an die heidnische Völkerwelt löst, indem er sie freikauft und ihnen ihr Land zurückgibt. Die Erfüllung des Gesetzes und seiner Forderungen durch den Messias entspricht der »Sandale« des ersten Lösers, der nun in einem öffentlichen Akt seine Ansprüche als getilgt erklärt und alle Rechte an den zweiten Löser und seine Gerechtigkeit abtritt. Wie Boas die verantwortlichen Ältesten zu öffentlichen Zeugen aufruft, so geschah auch Jesu Erfüllung des Gesetzes öffentlich, selbst am Kreuz fand die Öffentlichkeit keinen Makel an ihm und bestätigte: "Anderen hat er geholfen". Durch Jesus als Verwandten-Löser wird der Name der "Kinder der Verheißung" (Röm 9,8) bestehen und ihre Zukunft durch bleibende Erbschaft gesichert sein.

 

Den Namen des Verstorbenen erhalten

Aufgrund dieser Reaktion des ersten Lösers löst Boas ein ganzes Problempaket: er "löst/rettet" seinen Ruf ebenso wie den Acker der Naomi - und es gelingt im zudem, seine Heirat mit einer Moabiterin als Pluspunkt seiner Gunst erscheinen zu lassen. Um den Namen des Verstorbenen und den damit verbundenen Familienbesitz zu erhalten kauft er den Acker, und um den Namen des Verstorbenen in die Zukunft zu tragen heiratet er Ruth, eine Moabiterin, ... so dass Kinder gezeugt werden können für den verstorbenen Machlon - als ob es eine Leviratsehe wäre, und dabei ist er nicht einmal Machlons Bruder (nach Dtn 25,5-10 soll der überlebende Bruder Löser werden)! Ein beeindruckendes Beispiel von Liebe zur Familie und Verwandtschaft! Den Namen des Verstorbenen zu erhalten bedeutet auch, das Land Israel zu erhalten. Der Verlust des Landes wurde dadurch abgewendet, dass der nächste Verwandte, in diesem Fall dessen rechtlich eingesetzter Stellvertreter, das zum Verkauf stehende Land erwirbt und damit der Familie erhält, oder es eben zurückkauft, wenn es schon veräußert ist. Dieser Zusammenhang verweist auf das Besitzverhältnis des ganzen Landes Israel: die Erhaltung des Landes ist Familiensache, nicht zuerst politische Aktivität. Diese politisch grundlegende Funktion der Familie kann nicht durch so etwas wie ein Kollektiv oder eine »Gesellschaft«, auch nicht ein staatliches Organ ersetzt werden, vielmehr bleibt die volkstragende und -erhaltende Institution in der Verantwortung der Familien. Die Familien und ihr Grundbesitz bilden Land und Volk, nicht umgekehrt. Bei der Landgabe nach dem Exodus steht die Verteilung des Landes an erster Stelle, einen König und eine Hauptstadt, also ein politisches Zentralorgan erhielt das Volk erst geraume Zeit später, - wobei das Königtum nicht unumstritten war, da wir monarchische und antimonarchische Texte in enger Verbindung vorfinden. Die Namen der Verstorbenen sollen auf Boas' Erbteil neu erstehen, damit ihr Name nicht aus der Gemeinschaft und Familie verschwindet. Posthum wird Elimelech und Machlon zugleich das Recht zugesprochen, in der Versammlung im Stadttor mitzuwirken und dort fortwirkend Anteil zu haben. Die Verstorbenen bilden auch weiterhin einen konstitutiven Teil der Gemeinde und sind Teil ihrer zukünftigen Entwicklung. - Eine Andeutung für die bleibende Präsenz der Erlösten in der Gemeinde Gottes auch nach dem Tod: "freut euch ..., dass eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind" (Lk 10,20). Der Name steht für die Realität und Identität der Person, auch wenn sie leiblich nicht sichtbar ist.

Globale Tora

Das Buch Ruth erweitert das Leviratsgesetz auf einen größeren Kreis und öffnet auf diese Weise die Tora über Israel hinaus, eine Ausweitung, die prophetische und messianische Züge trägt. "Bleibt niemandem etwas schuldig, ausser dass ihr einander liebt. Denn wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt." (Röm 13,8) Der Messias wird das Gesetz nicht nur erfüllen, er selbst ist der Logos, das Wort Gottes, das als Schöpfer, Erlöser und Vollender Mensch wurde und in die Welt gekommen ist. Als sein König geht er nicht nur eine Beziehung mit Israel ein, sondern wendet sich der ganzen Welt zu, indem er eine »Leviratsbeziehung« jedem Menschen anbietet, um Mitglied und Erbe des Volkes und auch Landes Gottes werden zu können.

 

Bedeutung von Levirat und Goel

Der Begriff der Leviratsehe / Schwagerehe entstammt dem lat. levir = Schwager, denn nach dem mosaischen Gesetz ist der Schwager einer kinderlos gebliebenen Witwe verpflichtet, sie zu heiraten und einen Sohn zu zeugen, der den Namen des verstorbenen Bruders weiterführt, und somit sein Name in Israel nicht ausgelöscht wird (Dt 25,5-10). Die Verhältnisse im Buch Ruth fallen streng genommen nicht unter das Gesetz der Leviratsehe. Das Schlüsselwort yavam (= Pflicht des Schwagers erfüllen) kommt im Buch gar nicht vor. Es gibt hier keinen lebenden Bruder ihres verstorbenen Mannes, zudem ist Naomi selbst nicht mehr in der Lage, noch Söhne für ihre verwitweten Schwiegertöchter auf die Welt zu bringen (Ruth 1,11), die dann außerdem wesentlich jünger wären. Zum Goel: Eine erweiterte Anwendung des Leviratsrechts ist diejenige des gaal mit der Bedeutung "lösen" oder "als Verwandter handeln"; das dazugehörige Substantiv heißt goel mit der Bedeutung, einen Verwandten loszukaufen, der sich wegen Armut selbst als Sklave verkauft hatte, um Schulden zu begleichen (Lev 25,47-49). Verlorenes Eigentum konnte durch Bezahlung des ehemaligen Eigentümers oder eines Verwandten wiedererlangt werden (Lev 25,24-34). Boas war solch ein "Verwandten-Löser". Offenbar konnte man von diesen Pflichten unter bestimmten Umständen entbunden werden bzw. sie zurückweisen (vgl. Ruth 3,12; 4,1-8). "Selbst wenn es expressis verbis im Mosaischen Gesetz nicht genannt wird, scheint jedoch eine Anwendung auf die eheliche Situation vorausgesetzt zu werden (Ruth 4,5). Es scheint sich gewissermaßen um eine Erweiterung des Gesetzes zu handeln, erhalten durch die Kombination des Lösegesetzes mit dem Gesetz über die Leviratsehe." Zugleich ist der Begriff goel eines der Schlüsselworte des Ruth-Buches und kommt direkt 12mal, in anderen Formen wie »loskaufen«, »Erlöser«, »Erlösung« 20mal vor.

 

Rechtfertigung durch Erlösung

Boas ist zugleich der Löser Naomis bzw. Elimelechs und ihres Eigentums (Ruth 4,14): die Heirat mit Ruth ist nur deshalb genealogisch rechtskräftig, weil sie als Schwiegertochter in einem Rechtsverhältnis zu Naomi steht, und nur deshalb ist auch die Leviratsehe des Boas rechtswirksam. Diese legalisierte Sukzession wird u.a. hierin deutlich: "Und Naomi nahm das Kind und hob es auf ihren Schoss und wurde seine Adoptivmutter. Und die Nachbarinnen gaben ihm einen Namen und sagten: Der Noomi wurde ein Sohn geboren. Und sie gaben ihm den Namen Obed." (Ruth 4,16-17). Die Frauen nennen Obed ausdrücklich Naomis Sohn und betonen damit den Fortgang von Elimelechs und Naomis Geschlecht, der allein durch die rechtlich vollgültige Integration der Moabiterin Ruth möglich geworden ist. In vergleichbarer Weise wird der Ölbaum Israel in Röm 11,17-24 erst durch die Einpropfung der Gemeinde aus den Heiden vervollständigt und ermöglicht die Wiedereinpfropfung Israels: "wieviel mehr werden die natürlichen Zweige wieder eingepfropft werden in ihren eigenen Ölbaum" (Röm 11,24). D.h. auch: erst durch einen außergewöhnlichen Rechtsakt, das Leviratsrecht, ist es möglich, dass Nichtisraeliten in den Bund Gottes integriert und rechtlich ratifizierte und anerkannte Mitglieder des Volkes Gottes werden.