Altes Testament

Einführung ins Alte Testament III
Schriftpropheten - Gott, das Volk und die Völker

Einführung in die Perspektivik der Schriftpropheten des Alten Testaments und ihre Ortsbestimmung im Kontext des biblischen Kanons. Überblick über die Inhalte der prophetischen Bücher, deren geschichtlicher Hintergrund und Bedeutung.

 

Leseprobe

 

Die prophetische »Persona« in Jesaja

Zunächst eine epistemologische Vorbemerkung: Man darf bei der Interpretation biblischer Verfasser nicht von der aufklärungsorientierten Vorstellung des autonomen Menschen, der als singulär-individualistischer Genius an seiner Leistung gemessen und mit ihr identifiziert wird, ausgehen. Der aufklärerische "Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" führt eben nicht in die vermeintliche Freiheit des eigenen Verstandes, sondern in die Bevormundung durch dessen reduzierte, eindimensional doktrinäre Logik. Die Bibel sieht den Menschen in viel stärkerem Maß im Kontext eines Beziehungsgeflechts, dessen Perspektiven sie als diejenige Dynamik begreift, die das »Ich« des Menschen immer neu etablieren und qualitativ formen. Das Postulat einer davon losgelösten, eigenständigen Identität souverän ungebundener Selbstverwirklichung demaskiert sich in Praxisbezügen als nicht selten leidvoll hinfällige Illusion. Vielmehr transzendiert der Mensch sich selbst und schreitet über die Grenzen seiner materialen Existenz hinaus: auch ohne körperliche Anwesenheit ist er präsent, räumlich und zeitlich; er hat ein Wirkungsfeld und eine Wirkungsgeschichte - und damit unwiderlegbar Realität.

Die modernen Gesellschaftswissenschaften haben diese geschichtlich-soziale Verflochtenheit des Menschen und damit auch die Konstitution seiner persönlichen Identität im Wechselwirkungsfeld seiner gesellschaftlichen Bezüge wieder neu entdeckt49. Sie widersprechen damit implizit der aufklärerischen Autonomie-Doktrin und ihrer materialistischen Voraussetzungen, an der, zumindest noch im 20. Jahrhundert, selbst das theologische Denken, wenn vielfach auch unausgesprochen, methodologisch festhielt. In Bezug auf die Verfasserfrage bedeutet dies eine Schwerpunktverlagerung weg von der Frage der allein »physischen Verfasserschaft« hin zum Wort-Kontinuum als »Realpräsenz« von Person und Amt, - was indes die physische Existenz nicht ausklammert, sondern umfasst, sie jedoch nicht als einzig mögliche Existenzform monistisch verklärt. Das Wort steht als Kriterium von Wahrheit und Wirklichkeit vor der Physis und bildet mithin Anfang und Voraussetzung derselben. Mit dem Namen "Jesaja" ist damit eine das vorfindliche Individuum in vielerlei Hinsicht transzendierende Dimension angesprochen. Den Wahrheitsgehalt auf die eine Existenzform der körperlichen Präsenz eingrenzen und damit andere Daseinsweisen ausgrenzen, sie mithin als selbstständige weitere Verfasser des Buches fordern zu wollen, führt eine Kanalisierung biblischer Texte, die in einen angeblich einzig möglichen, rationalen Korridor münden muss, ein. Damit hat man die multidirektionale Methodologie der Bibel selbst, das geschichtsgängig dynamische Wort-Kontinuum, bevormundet und repressiv beschnitten. Einen ähnlichen Vorgang haben wir im Verhältnis der Prophetie Maleachis und Johannes des Täufers: "Maleachi weissagte, dass dem Auftreten des Messias ein erneutes Auftreten Elias vorausgehen würde (Mal 3,23f)."50 Elia kam nur noch einmal auf die Erde zurück, und zwar auf den Berg der Verklärung, jedoch "seine prophetische Autorität trat mit Johannes dem Täufer wieder in Erscheinung; sie war in dessen Worten gegenwärtig."51 In der Vollmacht und Vollständigkeit des Wortes wird das Ganze der Identität repräsentiert.